09 Aug. Die russische Seele I Presentation Skills Training in Moskau

Gepostet am 09.08.2016 in: International, Erfahrungsbericht, Präsentieren, Trainings
Es wird viel gehetzt in Deutschland in diesen Tagen: gegen Flüchtlinge aus Syrien, gegen die Politik Erdogans in der Türkei, gegen gedopte russische Sportler, die von der Olympiade ausgeschlossen werden. Schnell werden so Vorurteile geschürt und Klischees bedient, ohne sich indes auch nur ein einziges Mal eigenständig mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Ende Juli reiste ich zum ersten Mal nach Moskau. Mein offizieller Auftrag: ein Presentation Skills Training für russische Sales Manager der Wacker Chemie AG durchzuführen. Und inoffiziell ganz viel Lust, mir endlich einmal ein eigenes Bild von Russland zu machen.

Geert Hofstede, ein anerkannter Experte der interkulturellen Kommunikation, nähert sich Kulturen mit Hilfe der „Kulturzwiebel“ an. Wie eine Zwiebel besteht eine Kultur aus verschiedenen Schichten.

Die Symbole sind die Dinge, die wir – oft als Tourist – zuerst sehen: Im Großen sind das in Moskau die wild nach oben sprießenden Zwiebeltürme der Basilius Kathedrale, das Funkeln der Rubinsterne am Kreml, das herrschaftliche Kaufhaus GUM, die unglaubliche Weite des roten Platzes. Und im Kleinen die überall präsenten Babuschkas, oft von alten Mütterchen am Straßenrand angeboten, und die typisch russischen Fellmützen, die an Verkaufsständen schon jetzt für den kalten  Winter angepriesen werden.

Unter Helden versteht Hofstede Archetypen und Figuren, lebendig oder tot, fiktiv oder non-fiktiv, die die jeweilige Kultur repräsentieren: In Moskau traf ich immer wieder auf Helden des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, sei es als Bronzestatuen in der monumentalen Metro, in der die Bahnhöfe so aussehen wie bei uns Konzertsäle – aus Marmor und den teuersten Hölzern erbaut – oder auf großflächigen Planen vor Bauzäunen. Und auch dem Portrait von Vladimir Putin, der an Popularität im eigenen Volk gewonnen hat, begegnet man in vielen Geschäften und öffentlichen Plätzen.

Möchte man sich einer Kultur weiter annähern, hilft es, Rituale zu verstehen. Rituale sind Sitten und Gebräuche im Privaten und auch im Geschäftsleben, die repräsentativ für Menschen eines Kulturkreises sind.  Hierzu zwei Beispiele:  Bei meiner Ankunft am Moskauer Flughafen Domodedowo wartete ich 50 Minuten an der Passkontrolle und war äußerst erstaunt über die unglaubliche Geduld der Russen. Ohne einen Mucks standen sie stoisch in der Schlange und harrten der Dinge, während die westlichen Besucher nervös murrten. Die gleiche Beobachtung machte ich im Straßenverkehr. Auf dem Weg ins Hotel steckte ich im Stau fest. Blechlawinen ohne Ende kennzeichnen den Moskowiter Verkehr. In keiner anderen europäischen Stadt habe ich so viel Porsche, Mercedes, BMW und Jeep der Luxusklasse gesehen. Der Verkehr steht mehr, als dass er fließt. Der Taxifahrer: tiefenentspannt – bis zu dem Moment, indem sich eine kleine Lücke ergab! Die galt es auszunutzen. Sofort wurde aufs Gaspedal gedrückt. Aber ordentlich. Da erreichte das Tacho schon mal Geschwindigkeiten, die ich sonst nur von den deutschen Autobahnen kenne. Das im Straßenverkehr das Recht des Stärkeren gilt, habe ich dann auch bei meinen hilflosen Versuchen als Fußgänger erlebt, wenn es darum ging die siebenspurigen Straßen zu Fuß zu überqueren. Das zweite Beispiel stammt aus dem Training: Augenzwinkernd, mit verschwörerischen Blick, klopfte sich der ältere Salesmanager mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Halsseite. Er wollte mich nicht darauf hinweisen, dass er etwa Halsschmerzen habe oder ihm ein Schal fehle, sondern, dass 100g (Wodka wird bei den Russen in Gramm angegeben!)  noch immer das beste Mittel gegen Lampenfieber sei – Russen scheinen doch wirklich zu glauben, dass „a Shot Vodka“ in Wirklichkeit gesundmacht. Egal, ob über Kopfschmerzen, Durchfall, Zahnschmerzen oder Grippe geklagt wird, die Moskowiter haben immer ein Heilmittel parat: Wodka.  

Um in das Herz einer Kultur vorzudringen empfiehlt Hofstede sich mit Werten und Normen einer Kultur auseinanderzusetzen. In der Regel benötigt man einen längeren Zeitraum, um für Werte und Normen einer Kultur ein Gespür zu bekommen. In der knappen Woche, die ich in Moskau verbrachte, zeigte sich mir an zwei Stellen die russische Seele. Nicolai, ein Wacker Mitarbeiter, der kein Teilnehmer des Seminars war, bot mir an, mir nach Trainingsende mit seinem Auto die Stadt zu zeigen „...for some hours!“. Und er fuhr tatsächlich einige Stunden mit mir durch Moskau. Als gebürtiger Moskowiter hatte er ein enormes geschichtliches Wissen, das gepaart mit Anekdoten von keinem professionellen Reiseführer getoppt werden kann. Danke Nicolai! Und Danke auch an Yana, zuständig für das Office Management und Corporate Communication bei der Wacker Chemie RUS, die sich am Samstag mit mir traf und einen Tag ihres kostbaren Wochenendes mit mir verbrachte. Obschon sehr weitgereist, erlebte ich eine selten erfahrene Gastfreundschaft. Ich musste nur auf die leckeren Kirschen eines Straßenverkäufers am Gorkipark schauen, schon hatte Yana sie für mich gekauft. Wir fuhren Metro und fotografierten gemeinsam und besuchten die ehemalige Chocolate Factory „Red October“, wo jetzt Galerien und hippe Restaurants eine sehr moderne Seite von Moskau zeigen, und hatten Zeit für interessante Gespräche. 

Die russische Seele beinhaltet nämlich eine gewisse herzliche Tiefe, welche ich als Westbürger ganz langsam beginne zu verstehen.

Autor: Jutta Portner | jutta.portner@c-to-be.de

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